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Heute vor 100 Jahren

Wolfgang Neuss

* 3. Dezember 1923 † 5. Mai 1989

Wir Kellerkinder

ISBN: 9783434460152 | Syndikat / EVA | 1983 | 165 Seiten

»Wir Kellerkinder« ist die Geschichte von Macke Prinz, der während des Krieges in seinem Keller den Kommunisten Kösel vor den Nazis, und nach dem Kriege seinen Vater vor der Entnazifizierung versteckt. Der »Retter in der Not« wird für seine Heldentat mit Prügel von beiden Seiten belohnt und landet in einer Heilanstalt für »Nichtangepaßte«. Dort trifft er den Toilettenmann Adalbert, der sich manchmal unbedingt für Adolf Hitler halten muß, und Arthur, der sich selbst für einen »verdienten Jazzer des Volkes« hält, aber gerade deswegen beim Kottbusser »Theater Courage« nicht den richtigen Takt findet. Wir Kellerkinder galt zur Zeit der Entstehung 1960 als »Meisterstück politischer Satire«. Die in diesem Band enthaltenen zwei weiteren Filmsatiren »Serenade für Angsthasen« und »Genosse Münchhausen« sind eine Wiederbegegnung mit »Rumpfdeutschlands scharfzüngigsten Kritiker« der sechziger Jahre.

pimpf

Berlin.
Wir Kellerkinder hatten große Zeiten.
Es war 1938.
Ich fang in dem Jahr zu erzählen an, weil ich auch in dem Jahr anfing zu denken.
In unserm Haus hing 1938 fast aus jedem Fenster freiwillig ein Hakenkreuz raus.
Es war die Zeit, wo die Polizei nicht wegen eines Hakenkreuzes zuviel, sondern höchstens wegen eines zu wenig kam.
Im ersten Stock unseres Hauses über dem Keller hing keine Fahne raus.
Da wohnte die jüdische Familie Friedländer.
Im vierten Stock hing auch keine.
Da wohnte ein gewisser Herr Knösel, Schriftsteller, Kommunist und Junggeselle.
Also jedenfalls erzählte man sich so über ihn bei uns im Hause.
Ich war damals 11 Jahre alt, sah genauso aus wie heute, nur kürzer.
Jünger war ich damals, glaube ich, kaum.
Aber Anhänger war ich.
Ich hing dem deutschen Jungvolk an.
Ich war Pimpf...

still

Als Hörspiel

»Wir Kellerkinder« wurde als Film viel beachtet, die Hörspielfassung ist dagegen weitgehend unbekannt geblieben. Dabei hat Wolfgang Neuss auch hier Personen lebensnah skizziert, die deutschen Verhaltensweisen aufgespießt, sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Ein seltenes Dokument aus dieser Zeit, das sowohl schmunzeln lässt als auch nachdenklich macht.

Bearbeitung: Herbert Kundler | Regie: Wolfgang Spier | Musik: Johannes Rediske | Produktion: Norddeutscher Rundfunk/RIAS, 1960


Mitwirkende: Wolfgang Neuss | Wolfgang Gruner | Martin Held | Klaus Becker | Ewald Wenck | Jo Herbst | Emely Schiller | Ivo Veit | Reinhold Bernt | Horst Niendorf | Inge Wolffberg | Rolf Ulrich | Georg Braun | Dieter Koch | Achim Strietzel | Joachim Röcker | Edith Robbers | Erna Senius | Helmut Ahner | Friedrich Luft | Horst Braun | Horst Czarski | Dietrich Frauboes | Joe Furtner | Oskar Lindner | Paul Löffler | Hans Nerking
archive.org

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©beck: schneeschnee.cc

»Inakzeptabel, skrupellos und kontraproduktiv« - erste Politiker deutscher Parteien werden wegen anhaltender Untätigkeit in Sachen Klima in Gewahrsam genommen...

»Unacceptable, unconscionable and counterproductiv« - first politicians of German parties are taken into custody for continued inaction on climate...

Leider nur ein schöner Traum... / Unfortunately only a nice dream...

Jürgen Scheller

* 21. August 1922 + 31. März 1996

Kam ein Gast ins Kabarett

Text: Klaus Peter Schreiner

Kam ein Gast ins Kabarett,
fand die Räumlichkeiten nett,
zahlte seinen Obolus
ohne jeglichen Verdruß,
legte Mantel ab und Hut,
fand sogar den Sitzplatz gut,
winkte sich den Kellner her
zwecks Bestellung von Verzehr,
wählte eine Extra dry,
fand dieselbe einwandfrei,
trank die ersten Gläser ex,
sah sich um, nach etwas Sex,
lächelte verführerisch
dreimal kurz zum Nebentisch,
brachte einen Flirt in Gang,
freute sich, weil's ihm gelang,
streifte, als das Licht ausging,
heimlich ab den Ehering,
drehte dann mit frohem Sinn
seinen Stuhl zur Bühne hin,
lachte mehrmals ungeniert
über das, was dort passiert,
brach schon bei dem Namen Strauß
ohne Grund in Beifall aus,
schlug sich auf die Schenkel dann
oder seinem Nebenmann,
flirtete mit einer Frau,
einer andern, wurde blau,
ließ sich in der Pause nun,
statt das Gegenteil zu tun,
eine zweite Extra dry
kommen, denn er blieb dabei,
sprach: Na, ist das nicht grandios?
Hier ist endlich mal was los!
Nie mehr schau ich mir so'n Mist an,
wie den Hamlet oder Tristan!
Klatschte, als das Licht ausging
und der zweite Teil anfing,
war erst geistig noch ganz fit,
sang dann aber manchmal mit,
lachte sich so gut wie tot,
kam dann plötzlich sehr in Not,
spürte einen bösen Drang,
wünschte sich den Abgesang
und das Ende des Programms,
zog die Uhr aus seinem Wams,
prüfend, ob's nicht bald vorbei,
trank den letzten Extra dry,
brannte sich ein Loch ins Hemd,
saß am Ende ganz verklemmt,
spendete gequält Applaus,
als dann feststand, es ist aus,
lachte über ein Bonmot
seinerseits - und ging aufs Klo,
sah dann schließlich an der Bar,
daß kein Flirt mehr möglich war,
zog sich Mantel an und Hut,
fand die frische Luft nicht gut,
kam zu spät zur letzten Tram,
sprach zu sich: ein scheiß Programm!

Georg Kreisler Collage

Heute vor 100 Jahren

Georg Kreisler

* 18. Juli 1922 † 22. November 2011

Georg Kreisler war Komponist, Dichter, Sänger, Wiener, Amerikaner, Jude.
Aber Schubladen mochte er nie.
Im Laufe seines Lebens schrieb Georg Kreisler etwa fünfzehn Theaterstücke, zwei komische Opern, drei Romane sowie fünf bis zehn andere Bücher, einige hundert Lieder, Sketche, Monologe, Artikel, Gedichte - was halt so anfällt. Er inszenierte, dirigierte, arrangierte, übersetzte, sang, schauspielerte, spielte Klavier in Spelunken, Opernhäusern, in Nachtlokalen, auf Riesenbühnen, Kabarettbühnen, Nacht­theatern, Privatpartys, in Konzertsälen oder Wirtshäusern. „Nicht nur meine Satiren, sondern fast alles, was ich schreibe, hat mit Humanität zu tun, im Gegensatz zur fortschreitenden Abschaffung der Humanität durch Politik und die Gesetze des Marktes. Zur Humanität gehören Toleranz, die Rücksichtnahme und vor allem die Liebe, mit der Menschen miteinander umgehen."

Collage mit Covern von Werner Finck

Heute vor 120 Jahren

Werner Finck

* 2. Mai 1902 † 31. Juli 1978

An meinen Sohn Hans Werner

Du brauchst dich deines Vaters nicht zu schämen,
Mein Sohn.
Und wenn Sie dich einmal beiseite nehmen
Und dann auf mancherlei zu sprechen kämen,
Sei stolz, mein Sohn.

Sie haben deinem Vater reichlich zugesetzt,
Mein Sohn. Ihn ein- und ausgesperrt und abgesetzt,
Sie haben manchen Hund auf ihn gehetzt
Paß auf, mein Sohn:

Dein Vater hat gestohlen nicht und nicht betrogen,
Er ist nur gern mit Pfeil und Bogen
Als Freischütz auf die Phrasenjagd gezogen -
Und so, mein Sohn,

Kannst du den Leuten ruhig in die Augen gucken,
Mein Sohn.
Brauchst, wenn sie fragen, nicht zusammenzucken.
Ich ließ mir ungern in die Suppe spucken,
Das war's, mein Sohn.

Wie vieles hat der Wind nun schon verweht,
Mein Sohn.
Der Wind, nach dem ich mich noch nie gedreht -
Daß dir mein Name einmal nicht im Wege steht,
Gib Gott, mein Sohn!


Dieter Hildebrandt - Überleben Sie mal

aus:
Was bleibt mir übrig | Anmerkungen zu (meinen) 30 Jahren Kabarett. | Texte 1961 -1964
Knaur | 1989 | ISBN: 9783426023846 94 / ~2000 :))

Überkleben Sie Plakate, Transparente, wo geschrieben steht, es ist nun alles aus. Überlassen Sie das bitte dem Talente, der Voraussicht unsrer Herrn im Bundeshaus. Übergeben Sie suspekte Elemente, die das sagen, der Verfassungspolizei. Auch der Untergang der Welt war eine Ente. Pazifismus ist nur leere Rederei. Weil alles halb so wild ist, wenn man nur recht im Bild ist. Weil man nur an geschmiert ist, wenn man nicht informiert ist. Weil alles halb so schwer ist, weil alles kein Malheur ist, weil jeder Amateur ist, der sich dabei empört.


Überheben Sie sich sämtlicher Bedenken, eine Bombe kostet nicht gleich jeden Kopp, und die Kirche sagt, der Herr wird sie schon lenken, und der lenkt sie in den Osten. Na und ob... sie aber über Oberammergau oder aber über Unterammergau, oder aber überhaupt nicht fällt, ist nicht gewiß.


BÜRGERIN: Der Mensch von heute soll nicht höher als höchstens im Hochparterre wohnen.
1. BÜRGER: Warum denn das?
BÜRGERIN: Je höher der Stand der Technik, um so tiefer muß der Mensch wohnen.
1. BÜRGER: Weswegen?
BÜRGERIN: Damit er's nicht so weit in den Keller hat.
2. BÜRGER: (Zieht ein Buch heraus.) »Eine moderne Fernrakete hat eine Geschwindigkeit Von 28 000 Stundenkilometern. Die Flugzeit von Bratislawa bis München würde also fünf Sekunden betragen.«
3. BÜRGER: Sagen Sie!
2. BÜRGER: Nein, sagt der Fachmann.
1. BÜRGER: Sie vergessen unser hochentwickeltes Warnsystem; es kann uns nichts passieren.
3. BÜRGER: Unser was?
1. BÜRGER: Warnsystem. (Zieht eine Broschüre heraus und liest.) »Bei einem drohenden Angriff wird die Bevölkerung durch den Rundfunk über die allgemeine Lage laufend unterrichtet.«
3. BÜRGER: Sagen Sie?
1. BÜRGER: Nein, sagt diese amtliche Broschüre.
3. BÜRGER: Moment, das möchte ich wissen. Ich gehe jetzt hinaus und bin die Rakete. Einer von Ihnen spielt den Bayerischen Rundfunk, und einer zählt von 21-25, und dann schlage ich ein. (Geht ab.)
2. BÜRGER: Ich bin der Bayerische Rundfunk.
BÜRGERIN: Und ich zähle bis 25. Alles fertig?
3. BÜRGER: (Von ganz weit hinten.) Fertig! Ich liege bereits auf der Abschußrampe!
BÜRGERIN: Einundzwanzig -- zweiund...
2. BÜRGER: Hier ist der Bayerische...
BÜRGERIN: zwanzig -- dreiund...
2. Bürger: Rundfunk.
BÜRGERIN: zwanzig -- vierund...
2. BÜRGER: Vor fünf Sek... (Alle stürzen mit einem Schrei von der Bühne. Die »Bombe« tritt auf.)
3. BÜRGER: Wo sind Sie denn?
2. BÜRGER: Im Keller!!
3. BÜRGER: Sie waren doch der Rundfunk. Sie müssen doch das Volk warnen?
2. BÜRGER: Und wer warnt mich? (Alle kommen langsam wieder auf die Bühne.)
3. BÜRGER: Das Frühwarnsystem funktioniert ganz toll, was? Und was sollte denn der Quatsch mit der Aktentasche? Warum haben Sie die über den Kopf gehalten, als ich einschlug?
BÜRGERIN: Das habe ich in der amtlichen Broschüre des Bundesinnenministeriums gelesen.
1. BÜRGER: Jawohl, Aktentaschen schützen gegen Strahlung und herabfallende Trümmer.
2. BÜRGER: (Schlägt sein Buch auf.) »Bei einer Oberflächenexplosion berührt der Feuerball die Erdoberfläche. Dabei werden Gestein, Erde und andere Materialien verdampft und in den Feuerball aufgesogen.«
BÜRGERIN: Und was sagt Ihre Broschüre?
1. BÜRGER: »Die Hitzestrahlung breitet sich mit ungeheurer Geschwindigkeit aus. Sie wirkt aber wegen ihrer kurzen Dauer nur auf die jeweils getroffene Oberfläche. In der Nähe schützen davor bereits Mauervorsprünge und größere Gegenstände.«
2. BÜRGER: Aktentaschen.
1. BÜRGER: Jawohl!
BÜRGERIN: Vielleicht sollte man noch was rein tun in die Aktentasche, dann schützt sie noch mehr.
2. BÜRGER: Ja, die Broschüre vom Innenministerium. (Er liest aus seinem Buch.) »Eine Wasserstoffbombe bewirkt nach den Erfahrungen von Bikini eine Verseuchung von 20 000 Quadratkilometern.«
1. BÜRGER: Unsinn! Da lese ich doch lieber die Broschüre! »Die sogenannte Anfangsstrahlung dauert etwa 60 Sekunden und reicht nie weiter als 3-5 Kilometer vom Explosionspunkt.«
BÜRGERIN: Wir wollten sowieso aufs Land ziehen.
1. BÜRGER: Tun Sie es nicht, denn in meiner Broschüre steht:** »Flucht bringt keine Rettung.«
ALLE: Ach soo?
1. BÜRGER: Ja. »Wer sich auf die Flucht begibt, kann nicht rechtzeitig gewarnt werden.«
2. BÜRGER: Vom Bayerischen Rundfunk! Überleben werden wir's auf alle Fälle, weil die Seele immer noch unsterblich ist. Keinen Fußbreit rückt der Deutsche von der Stelle, wie ihr alle noch vom letzten Krieg her wißt.


Überheben Sie sich sämtlicher Bedenken, eine Bombe kostet nicht gleich jeden Kopp. Und die Kirche sagt: Der Herr wird sie schon lenken, und der lenkt sie in den Osten, na und ob... sie aber über Unterpfaffenhofen oder aber über Oberpfaffenhofen oder aber ganz genau ins Altmühltal, ist fast egal.

Der Schweinewitz Zeichnung

Wolfgang Neuss - Der Schweine-Witz

»Da wir gerade davon sprechen. Die Engländer sind ja feine Leute, alles was recht ist... Sehen Sie mal, was machen die Engländer neuerdings? Schon von gehört? Die fahren doch mit ihren Schiffen ins Bikini-Atoll. Da haben sie Schweine drauf. Und natürlich Engländer. Jetzt kommt's: Erst schmeißen sie die Schweine ins Wasser, dann werfen sie eine Atombombe. Wissen Sie was passiert? Ein Teil der Schweine geht unter, die andern Schweine fahren wieder nach Hause...«


»In die Kleinkunst stolpert man rein.
Das ist kein Plan, keine Absicht. Da gibt's keinen Lehrvertrag. Man schlittert. Manchmal auf allen vieren.
Als ich 1945, unmittelbar nach Kriegsende über die deutsch-dänische Grenze geschlichen war, machte ich da weiter, wo ich bei der Truppenbetreuung aufgehört hatte.
Zu meinen Standardnummern gehörte der Schweine-Witz vom Bikini-Atoll. »Lachkalorien« hieß das Programm. Das war damals so das Unterhaltungsniveau - schleswigholsteinischer Raum. Die Leute waren dankbar.
Da kommt eines Tages ein englischer Offizier und sagt: »Das mit den Schweinen haben wir nicht so gerne. Wenn Sie den Witz nochmal bringen, dann ist es aus von wegen Bühne und so.« Da wurde ich wach. Das reizte mich: so viel Aufmerksamkeit wegen einer harmlosen Pointe.
Habe dann den Witz natürlich immer wieder gebracht. Und dann haben sie mich abgeholt: Halbes Jahr Gefängnis, mit Bewährung.
Damit war für mich die Sache klar: Hier steigst du ein. Ein halbes Jahr - und das für einen einzigen Witz?
Mir dämmerte: Das hat Zukunft.«
Wolfgang Neuss in:

Volker Kühn - Das Wolfgang Neuss Buch
Zweitausendeins | 1984 | ISBN: 9783882680140


Dabei waren es gar nicht die Engländer, die diese perversen Atombombenversuche im Pazifik durchgeführt haben:
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschloss der damalige US-Präsident Harry S. Truman im Dezember 1945 Kernwaffenversuche durchzuführen, um deren Zerstörungspotential zu ermitteln. Das Bikini-Atoll und das benachbarte Eniwetok-Atoll wurden als Testgebiete gewählt, weil sie weitab von allen regulären Schifffahrts- und Flugverkehrsrouten lagen. Auf Anfrage des Militärgouverneurs der Marshallinseln stimmte das Oberhaupt der Bikinianer, König Juda, zu, dass sein Volk seine Heimat verlassen werde, im Glauben, zu einem späteren Zeitpunkt auf die Inseln zurückkehren zu können. Die insgesamt 167 Bikinianer wurden auf das kleinere, unbewohnte Rongerik-Atoll umgesiedelt.
Während der Testserien von 67 Atombombenversuchen waren über 42.000 Techniker, Wissenschaftler und Militärs auf Bikini stationiert. Außerdem wurden 242 Schiffe, 156 Flugzeuge und 5400 Versuchstiere (Ratten, Ziegen und Schweine) eingesetzt.

Aber nicht, daß jetzt jemand denkt, die armen unschuldigen Engländer:
Im Jahr 1956 begann Großbritannien mit den Vorbereitungen für mehrere Kernwaffentests auf Kiritimati sowie auf dem rund 750 km südlich gelegenen unbewohnten Atoll Malden.

Obwohl die Bevölkerung zuvor nicht vollständig evakuiert worden war, erfolgte am 8. November 1957 direkt über der südöstlichen Spitze Kiritimatis der Abwurf einer weiteren Wasserstoffbombe (Grapple X), deren Sprengkraft auf eine Megatonne kalkuliert worden war, die aber tatsächlich eine Energie von 1,8 Megatonnen freisetzte und mehrere Gebäude im sicher geglaubten Westteil der Insel beschädigte.

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Heute vor 100 Jahren

Lore Lorentz

* 12. September 1920 † 22. Februar 1994

Auf dem Laufsteg zu singen

Marschmusik für Einzelgänger
Ansichten von Martin Morlock | Neu gerahmt von Wolfgang Franke

Was werden wir in diesem Frühjahr tragen?
Was wird in diesem Frühjahr letzter Schrei?
Nun, eines kann man mit Bestimmtheit sagen:
Viel Neues ist in diesem Frühjahr nicht dabei!

Wenn wir die Kreationen so betrachten,
Dann glauben wir, wir hätten uns verschaut.
Was sich die Modeschöpfer dabei dachten?
Sind die Modelle uns nicht sonderbar vertraut?

Man trägt wieder Nationalismus,
Zwar gedämpft, sehr dezent, doch pointiert!
Man trägt wieder Nationalismus
Aus Dummheit oder Snobismus
Und mit Rückziehern modisch garniert.

Man schnürt sich wieder stramm in die Corsage,
Damit die Weltanschauung besser sitzt.
Die weich abfallende Zivilcourage
Wird diesmal als effektvoller Kontrast benützt.

Man trägt die Vorurteile wieder lose,
Die man noch gestern so geschickt verbarg,
Und stützt die abendländische Psychose,
Dafür betont man den Charakter nicht so stark.

Die Stiefel werden wieder etwas länger,
Die Schlappen werden zackig angereiht,
Die Veteranenbündchen schließt man enger
Und auch den Horizont trägt man nicht mehr so weit.

Man trägt wieder Nationalismus,
Nihilist oder Christ - ganz egal,
Man trägt wieder Nationalismus
Als flotten Anachronismus
Und mit dreiviertellanger Moral!

Bitte, decken Sie sich rechtzeitig für das Frühjahr ein!
Warten Sie nicht auf die Auslandskollektionen,
Die sollen nämlich nach unseren Informationen
Ganz ähnlich sein!

Guten Abend, meine Damen und Herren. Stört Sie was an der Feststellung »Man trägt wieder Nationalismus«?
Mich schon.
Das »man«.
Wer, bitte sehr, trägt Nationalismus? Immer diese Rundschläge!
Wer Nationalismus sagt, der soll doch gefälligst Roß und Reiter nennen, wie es heute so schön heißt.
Marschmusik erfreut sich unveränderter Beliebtheit, aber verbal machen wir's doch nicht mehr unter der Kavallerie. Immer noch mal draufsatteln.
Also, wie ist das?
Tragen Sie vielleicht Nationalismus? Oder Sie? Oder Sie?
Trage ich Nationalismus?
Trägt die Regierung Nationalismus?
Auf den ersten Blick nicht.
Herr Dregger ist ja auch nicht drin.
Trägt der Kanzler Nationalismus?
Also, der Kanzler trägt eigentlich nur einen blauen Anzug, und mehr fällt mir nicht ein. Aber ich würde ihm, ohne zu zögern, einen gebrauchten IBM-Computer abkaufen.
Und was den Rest der Regierung betrifft - nein, die trägt auch nicht.
Aber irgendwie wird unter ihr vieles wieder tragbar.
Irgendwie? Ja, genau so.
Es geht ja nicht alles so direkt.
Können Sie sich einen deutschen Minister oder Landesministerpräsidenten oder Regierungspräsidenten vorstellen, der sich den Herrn von der Materialverwaltung kommen läßt und sagt: Ich möchte ab jetzt eine Fahne hinterm Schreibtisch haben! - ?

Also, ich bin vielleicht naiv, aber ich kann mir so einen immer noch nicht vorstellen.
Ich kann mir allerdings einen Herrn von der Materialverwaltung vorstellen, der von sich aus eine hinstellt, dort, wo vorher der Gummibaum stand, ich kann mir auch eine Putzfrau vorstellen, die sagt: Fein, eine Fahne braucht man nicht mehr zu gießen, die hängt immer, nur einmal im Jahr laß ich sie mit dem Staubsauger flattern.
Ich kann mir auch einen Minister vorstellen, der sagt: Na gut, jetzt ist eine Fahne da, von mir aus kann sie stehenbleiben. Und dann bleibt sie stehen.
Ist es Ihnen nicht aufgefallen?
Wo Sie hingucken, im Hintergrund schlappes Schwarz-Rot-Gold am Stiel. Gab's vor ein paar Jahren noch nicht.
Wer hat es hingetan?
Man hat es hingetan.
»Man« ist vielleicht doch nicht so falsch.
Es hat sich hingetan.
Es trägt sich wieder.
Jetzt warte ich auf den Einwand: Sie reden über unbeweisbare Dinge.
Das ist kein Einwand, das ist mein Beruf. Wenn sie beweisbar werden, ist es meistens zu spät.
Aber, könnten Sie sagen, was hat denn eine Fahne mit Nationalismus zu tun?
Das kommt darauf an, wo sie weht und wieviel.
Draußen oder drinnen.
Draußen im Ausland kann Flaggezeigen einen Sinn haben. Kann. Muß nicht.
Im Inland, aber draußen, also an der frischen Luft, da halte ich es schon für ziemlich überflüssig.

Im Inland und drinnen im Zimmer - dafür fällt mir kein anderer Grund ein als Nationalismus.
Aber, könnten Sie sagen, das ist kein Nationalismus, das ist Gedankenlosigkeit.
Darauf würde ich sagen: Das ist dasselbe. In den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist das dasselbe.
Das Schöne ist, auf keine Gedanken muß man nicht selber kommen, dafür gibt es internationale Vorbilder, die liefert das Fernsehen frei Haus.
Haufenweise Filme aus einem Land, in dem hinter jedem zweiten Schreibtisch eine Fahne steht, vom Weißen Haus bis zum Waisenhaus.
Dieses Land, besiedelt von hundert Nationen, hat den zweitheftigsten Nationalismus der Welt - gleich nach Frankreich - und die dekorativste Fahne. Beides muß es zwanghaft raushängen. Putzt ungemein und weckt bei andern das Gefühl: Sowas müssen wir uns auch anschaffen.
Was man sich nicht anschaffen kann, ist ein passendes, also ein hübsch gedankenloses Verhältnis zum Nationalismus und zu sich selber.
So was hat man, oder man hat es nicht.