
Heute vor 100 Jahren
Lore Lorentz
* 12. September 1920 † 22. Februar 1994
Auf dem Laufsteg zu singen
Marschmusik für Einzelgänger
Ansichten von Martin Morlock | Neu gerahmt von Wolfgang Franke
Was werden wir in diesem Frühjahr tragen?
Was wird in diesem Frühjahr letzter Schrei?
Nun, eines kann man mit Bestimmtheit sagen:
Viel Neues ist in diesem Frühjahr nicht dabei!
Wenn wir die Kreationen so betrachten,
Dann glauben wir, wir hätten uns verschaut.
Was sich die Modeschöpfer dabei dachten?
Sind die Modelle uns nicht sonderbar vertraut?
Man trägt wieder Nationalismus,
Zwar gedämpft, sehr dezent, doch pointiert!
Man trägt wieder Nationalismus
Aus Dummheit oder Snobismus
Und mit Rückziehern modisch garniert.
Man schnürt sich wieder stramm in die Corsage,
Damit die Weltanschauung besser sitzt.
Die weich abfallende Zivilcourage
Wird diesmal als effektvoller Kontrast benützt.
Man trägt die Vorurteile wieder lose,
Die man noch gestern so geschickt verbarg,
Und stützt die abendländische Psychose,
Dafür betont man den Charakter nicht so stark.
Die Stiefel werden wieder etwas länger,
Die Schlappen werden zackig angereiht,
Die Veteranenbündchen schließt man enger
Und auch den Horizont trägt man nicht mehr so weit.
Man trägt wieder Nationalismus,
Nihilist oder Christ - ganz egal,
Man trägt wieder Nationalismus
Als flotten Anachronismus
Und mit dreiviertellanger Moral!
Bitte, decken Sie sich rechtzeitig für das Frühjahr ein!
Warten Sie nicht auf die Auslandskollektionen,
Die sollen nämlich nach unseren Informationen
Ganz ähnlich sein!
Guten Abend, meine Damen und Herren. Stört Sie was an der Feststellung »Man trägt wieder Nationalismus«?
Mich schon.
Das »man«.
Wer, bitte sehr, trägt Nationalismus? Immer diese Rundschläge!
Wer Nationalismus sagt, der soll doch gefälligst Roß und Reiter nennen, wie es heute so schön heißt.
Marschmusik erfreut sich unveränderter Beliebtheit, aber verbal machen wir's doch nicht mehr unter der Kavallerie. Immer noch mal draufsatteln.
Also, wie ist das?
Tragen Sie vielleicht Nationalismus? Oder Sie? Oder Sie?
Trage ich Nationalismus?
Trägt die Regierung Nationalismus?
Auf den ersten Blick nicht.
Herr Dregger ist ja auch nicht drin.
Trägt der Kanzler Nationalismus?
Also, der Kanzler trägt eigentlich nur einen blauen Anzug, und mehr fällt mir nicht ein. Aber ich würde ihm, ohne zu zögern, einen gebrauchten IBM-Computer abkaufen.
Und was den Rest der Regierung betrifft - nein, die trägt auch nicht.
Aber irgendwie wird unter ihr vieles wieder tragbar.
Irgendwie? Ja, genau so.
Es geht ja nicht alles so direkt.
Können Sie sich einen deutschen Minister oder Landesministerpräsidenten oder Regierungspräsidenten vorstellen, der sich den Herrn von der Materialverwaltung kommen läßt und sagt: Ich möchte ab jetzt eine Fahne hinterm Schreibtisch haben! - ?
Also, ich bin vielleicht naiv, aber ich kann mir so einen immer noch nicht vorstellen.
Ich kann mir allerdings einen Herrn von der Materialverwaltung vorstellen, der von sich aus eine hinstellt, dort, wo vorher der Gummibaum stand, ich kann mir auch eine Putzfrau vorstellen, die sagt: Fein, eine Fahne braucht man nicht mehr zu gießen, die hängt immer, nur einmal im Jahr laß ich sie mit dem Staubsauger flattern.
Ich kann mir auch einen Minister vorstellen, der sagt: Na gut, jetzt ist eine Fahne da, von mir aus kann sie stehenbleiben. Und dann bleibt sie stehen.
Ist es Ihnen nicht aufgefallen?
Wo Sie hingucken, im Hintergrund schlappes Schwarz-Rot-Gold am Stiel. Gab's vor ein paar Jahren noch nicht.
Wer hat es hingetan?
Man hat es hingetan.
»Man« ist vielleicht doch nicht so falsch.
Es hat sich hingetan.
Es trägt sich wieder.
Jetzt warte ich auf den Einwand: Sie reden über unbeweisbare Dinge.
Das ist kein Einwand, das ist mein Beruf. Wenn sie beweisbar werden, ist es meistens zu spät.
Aber, könnten Sie sagen, was hat denn eine Fahne mit Nationalismus zu tun?
Das kommt darauf an, wo sie weht und wieviel.
Draußen oder drinnen.
Draußen im Ausland kann Flaggezeigen einen Sinn haben. Kann. Muß nicht.
Im Inland, aber draußen, also an der frischen Luft, da halte ich es schon für ziemlich überflüssig.
Im Inland und drinnen im Zimmer - dafür fällt mir kein anderer Grund ein als Nationalismus.
Aber, könnten Sie sagen, das ist kein Nationalismus, das ist Gedankenlosigkeit.
Darauf würde ich sagen: Das ist dasselbe. In den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts ist das dasselbe.
Das Schöne ist, auf keine Gedanken muß man nicht selber kommen, dafür gibt es internationale Vorbilder, die liefert das Fernsehen frei Haus.
Haufenweise Filme aus einem Land, in dem hinter jedem zweiten Schreibtisch eine Fahne steht, vom Weißen Haus bis zum Waisenhaus.
Dieses Land, besiedelt von hundert Nationen, hat den zweitheftigsten Nationalismus der Welt - gleich nach Frankreich - und die dekorativste Fahne. Beides muß es zwanghaft raushängen. Putzt ungemein und weckt bei andern das Gefühl: Sowas müssen wir uns auch anschaffen.
Was man sich nicht anschaffen kann, ist ein passendes, also ein hübsch gedankenloses Verhältnis zum Nationalismus und zu sich selber.
So was hat man, oder man hat es nicht.