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Die Bucht von Komos

Die Bucht von Komos, Kreta, Griechenland

Franz Hohler - Der Mann auf der Insel - Ein Lesebuch

Kurzgeschichten | Luchterhand Literaturverlag | 1991 | ISBN: 9783630867557

Die schöne Insel

Wenn etwas im sinnlosen zweiten Weltkrieg besonders sinnlos war, dann war es die Eroberung Kretas durch die Deutschen im Mai 1941.
Griechenland hatte kapituliert, aber Kreta wurde noch von englischen Truppen gehalten, und plötzlich war die schöne Insel nicht mehr einfach eine schöne Insel, sondern ein Stützpunkt, ein wichtiger Stützpunkt im Mittelmeer, den man auf keinen Fall dem Feind überlassen durfte.
Und so mußten an einem heißen Tag Ende Mai ein paar tausend deutsche Fallschirmjäger über Kreta abspringen, mitten in die gut vorbereiteten Engländer hinein, und mußten versuchen, die Flugplätze unter Kontrolle zu bringen.
Dies gelang ihnen schlechter, als sie erwartet hatten, erst nach zwei Tagen waren die ersten Transportflugzeuge imstande, auf dem kleinen Flugplatz von [Maleme](https://de.wikipedia.org/wiki/Maleme zu landen und Gebirgstruppen abzusetzen, die dann von dort aus mit den wenigen übriggebliebenen Fallschirmjägern erstaunlicherweise die ganze Insel erobern konnten.
Eine abenteuerliche Flotte von allen möglichen, zum Teil in Piräus zusammengestohlenen Transportschiffen, die von Athen aus zusätzliche Truppen auf die Insel bringen sollte, lief kurz vor der Landung in die englische Marine hinein, und fast der ganze Konvoi wurde von ihr versenkt, mit andern Worten, die meisten deutschen Soldaten auf diesen Schiffen ertranken.
Die Kämpfe an Land müssen furchtbar gewesen sein. Viele wurden schon in den Fallschirmen erschossen, andere gleich beim Landen, die Kreter, sozusagen Partisanen aus Tradition, kämpften zum Teil zivil mit, mit Jagdflinten, oder mit Gewehren, welche sie den ersten getöteten Deutschen abgenommen hatten, und sie kannten jedes Haus und jedes Mäuerchen, im Gegensatz zu den Braunschweigern und Kölnern, die da vom Himmel fielen und denen man gesagt hatte, es sei nur mit vereinzeltem lokalem Widerstand zu rechnen.
Ihre Überreste liegen heute auf dem Hügel oberhalb des Flugfeldes von Maleme, auf einem der Hügel, von dem aus die Engländer auf die landenden Flugzeuge gefeuert haben müssen. Die Engländer waren übrigens nur zum Teil Engländer, es waren australische und neuseeländische Regimente dabei, gerade Maleme wurde hauptsächlich von den Neuseeländern verteidigt, unter denen auch, was für eine sonderbare Vorstellung, Maoris mitkämpften. Ich vermute, daß man denen die dreckigere Arbeit überließ. So erzählt ein neuseeländischer Offizier in einem Bericht, wie er einem Maori den Befehl gegeben habe, einen verwundeten, aber weiterkämpfenden deutschen Soldaten mit dem Bajonett zu töten. Der Maori habe das getan, habe aber dabei sein Gesicht abgewendet, weil er den Anblick nicht ertragen habe.
Und heute der Friedhof. Über 4000 Grabplatten liegen hier in Reih und Glied, aufgeteilt in Blöcke, Block I liest man, oder Block II, und im Besucherbuch hat jemand bei den Bemerkungen darauf aufmerksam gemacht, daß auch die Baracken in Auschwitz als Blöcke bezeichnet wurden.
»Sie starben für ihr Vaterland«, heißt der letzte Satz auf der großen Gedenktafel am Eingang, und ich versuche mir einen 19jährigen Lörracher Lehrling vorzustellen, der in Kreta aus dem Flugzeug rennt und dabei von einer neuseeländischen Maschinengewehrsalve umgebracht wird, für sein Vaterland.
Am Palmenstrand von Vai habe ich Schweizer Lehrlinge getroffen, die tags darauf gegen eine einheimische Mannschaft zu einem Fußballspiel antraten. Sie haben mehr Glück gehabt, sie sind 40 Jahre später geboren, und dazu noch in Basel, auf der richtigen Seite des Rheins, und sie konnten eine Twenreise nach Kreta buchen und in lockeren Kleidern mit gemieteten Motorrädern die Insel erobern und wieder verlassen. Ihr Lörracher Kollege von damals mußte sich mit entsetzlichem Gepäck in ein Flugzeug zwängen, in dessen Innern es 60°C heiß war, zusammen mit andern 19- und 20jährigen, um sich auf einer Ferieninsel erschießen oder erstechen zu lassen.
Auch als Lörracher Lehrling konnte man allerdings Glück haben, es sind ja nicht alle ums Leben gekommen. Manche von den Überlebenden besuchen heute ihre lieben Kameraden, wie sie sich ausdrücken, einer schreibt ins Gästebuch, er sei der erste deutsche Fallschirmjäger gewesen, der in Heraklion gelandet sei, und dies sei alles völlig sinnlos gewesen - nie wieder Krieg!
Diesen Satz liest man mehr als einmal, es gibt auch etliche, die gegen den Zynismus des Vaterlandssatzes protestieren, und unter all den alten Handschriften lese ich nur eine unbelehrbare, die schreibt »Wir danken Euch für Euren Einsatz!«
Der Mann kommt aus Österreich.
Das Namenbuch, in dem man nachschlagen kann, wer wo begraben liegt, ist abgegriffen, da gibt es noch viele, für die diese Gräber nicht Geschichte sind, sondern verlorene Menschen, ein Name ist mit einem dezidierten Kugelschreiberstrich korrigiert, nicht Horawetz Günther hieß der Major, sondern Morawetz, und oben, bei den Grabreihen, sieht man immer wieder Vasen mit frischen Blumen stecken.
Oft steht auf einer Platte auch kein Name, sondern
»Ein unbekannter deutscher Soldat«. Das waren die, deren Angehörige noch Jahre nach dem Krieg hofften, die Türe ginge auf, und er stünde da und sagte: »Da bin ich wieder.« Vielleicht ist er aber schon am ersten Tag gestorben, und nun liegt er da und kriegt keinen Besuch mehr.
Weiter oben ist auch ein Gedenkstein für »Angehörige der deutschen Luftwaffe«, die 1975 bei einem Unglück in Kreta ums Leben kamen. Das erinnert daran, daß heute alles anders ist. Täglich landen deutsche Charterflugzeuge auf allen Flughäfen der Insel, ohne daß sie von den Engländern beschossen werden, weil die Engländer auch kommen, zusammen mit den Schweizern und den Skandinaviern, denn heute kann man sich hier günstig erholen, es gibt Flüge ab 450 DM, und die Kreter sind froh um die Touristen, in den Hotels sprechen alle deutsch, wenigstens die nötigsten paar Sätze, in einem Bergdorf habe ich am Sonntag die BILD-Zeitung vom Samstag zum Verkauf aufliegen gesehen, und Griechenland ist in der NATO, und England auch, also dürfen alle Soldaten wieder gemeinsam auf die Insel, und das Fotografieren des lächerlich kleinen Flugplatzes Maleme ist verboten, denn es könnte ja sein, daß wieder einmal eine fremde Armee dort landen will, und dannzumal werden die Deutschen und die Griechen und die Engländer miteinander auf die Soldaten schießen, die aus den Flugzeugen herauspurzeln werden, und wer es diesmal sein wird, ist noch nicht bekannt, vielleicht die Russen, vielleicht die Türken, doch die sind ja auch in der NATO, aber dann vielleicht die Libyer oder die Iraner, ich weiß es auch nicht, ich vermute nur, daß es auch diesmal, aus welcher Richtung sie immer kommen mögen, wieder 19jährige Lehrlinge sind.

Franz Hohler - Der Weltuntergang

Album: Ungemütlicher 2. Teil, 1974

Der Weltuntergang, meine Damen und Herren, wird, nach dem, was man heute so weiß, etwa folgendermaßen vor sich gehen:

Am Anfang wird auf einer ziemlich kleinen Insel im südlichen Pazifik ein Käfer verschwinden, ein unangenehmer und alle werden sagen:
"Gott sei Dank ist dieser Käfer endlich weg
Dieses widerliche Jucken das er brachte und er war immer voller Dreck!"

Wenig später werden die Bewohner dieser Insel merken, daß am Morgen früh, wenn die Vögel singen, eine Stimme fehlt. Eine hohe eher schrille
Wie das Zirpen einer Grille
Die Stimme jenes Vogels dessen Nahrung, es ist klar
Der kleine dreckige Käfer war!

Wenig später werden die Fischer dieser Insel bemerken, daß in ihren Netzen eine Sorte fehlt jene kleine aber ganz besonders zarte die - hier muß ich unterbrechen und erwähnen, daß der Vogel mit der eher schrillen Stimme die Gewohnheit hat, oder gehabt haben wird
In einer langen Schlaufe auf das Meer hinaus zu kehren
Und während dieses Fluges seinen Kot zu entleeren
Und für die kleine, aber ganz besonders zarte Sorte Fisch, war dieser Kot
Das tägliche Brot!

Wenig später werden die Bewohner des Kontinents, in dessen Nähe die ziemlich kleine Insel im Pazifik liegt, bemerken daß sich überall an den Bäumen, auf den Gräsern, an den Klinken ihrer Türen, auf dem Essen, an den Kleidern, auf der Haut und in den Haaren, winzige schwarze Insekten versammeln
Die sie niemals gesehen
Und sie werden's nicht verstehen
Denn sie können ja nicht wissen, daß die kleine aber ganz besonders zarte Sorte Fisch, die Nahrung eines größeren gar nicht zarten Fisches war, welcher seinerseits nun einfach eine andere Sorte jagte
Einen kleinen gelben Stichling von selbem Maß
Der vor allem diese schwarzen Insekten fraß!

Wenig später werden die Bewohner Europas, also wir, merken, daß die Eierpreise steigen und zwar gewaltig und die Hühnerfarmbesitzer werden sagen, daß der Mais, aus dem ein Großteil des Futters für die Hühner besteht, vom Kontinent, in dessen Nähe die ziemlich kleine Insel im Pazifik liegt, plötzlich nicht mehr zu kriegen sei, wegen irgendeiner Plage von Insekten
Die man mit Giften erfolgreich abgefangen -
Nur leider sei dabei auch der Mais draufgegangen!

Wenig später jetzt - geht es immer schneller -
Kommt überhaupt kein Huhn mehr auf den Teller.
Auf der Suche nach Ersatz für den Mais im Hühnerfutter, hat man den Anteil an Fischmehl verdoppelt.
Doch jeder Fisch hat heutzutage halt
Seinen ganz bestimmten Quecksilbergehalt!
Bis jetzt war er tief genug um niemand zu verderben
Doch nun geht's an ein weltweites Hühnersterben!

Wenig später werden die Bewohner jener ziemlich kleinen Insel im südlichen Pazifik erschreckt vom Ufer in die Häuser rennen
Weil sie das was sie gesehen haben absolut nicht kennen.
Die Flut hat heute - und dazu muß man bemerken der Himmel war blau und Wind gab es keinen und der Wellengang war niedrig wie stets bei schönem Wetter - und trotzdem lagen heute nachmittag die Ufer der Insel unter Wasser und natürlich wußte niemand, daß am selben Tage auf der ganzen Welt
Die Leute von den Ufern in die Häuser rannten
Und die Steigung des Meeres beim Namen nannten!

Wenig später werden die Bewohner jener ziemlich kleinen Insel im südlichen Pazifik von den Dächern ihrer Häuser in die Fischerboote steigen um in Richtung jenes Kontinents zu fahren, wo seinerzeit die Sache mit dem Mais passierte. Doch auch dort ist das Meer schon meterhoch gestiegen und die Städte an der Küste und die Häfen die liegen schon tief unter Wasser denn die Sache ist die, man mußte das gesamte Federvieh, also sechs Milliarden Stück, vergiftet wie es war, verbrennen und der Kohlenstaub, der davon entstand, gab der Atmosphäre - durch Wärme und Verbrennung schon bis anhin strapaziert - den Rest. Sie ließ das Sonnenlicht wie bisher herein aber nicht mehr hinaus, wodurch sich die Luft dermaßen erwärmte, daß das Eis an den Polen zu schmelzen begann
Die Kälte kam zum Erliegen
Und die Meere stiegen!

Wenig später werden die Leute, die mittlerweile in die Berge flohen, hinter den Gipfeln weit am Horizont ein seltsam fahles Licht erblicken
Und sie wissen nicht was sie denken sollen
Denn man hört dazu ein leises Grollen
Und wenn einer der Älteren jetzt vermutet, daß nun der Kampf der Großen beginnt um den letzten verbleibenden Raum für ihre Völker
Da fragt ein Anderer voller Bitterkeit:
"Wie, um Himmels willen, kam es soweit?"

Tja meine Damen und Herren:
Das Meer ist gestiegen, weil die Luft sich erwärmte
Die Luft hat sich erwärmt, weil die Hühner verbrannten
Die Hühner verbrannten, weil sie Quecksilber hatten
Quecksilber hatten sie, weil Fisch gefuttert wurde
Fisch hat man gefuttert, weil der Mais nicht mehr kam
Der Mais kam nicht mehr, weil man Gift benutzte
Das Gift mußte her, weil die Insekten kamen
Die Insekten kamen, weil ein Fisch sie nicht mehr fraß
Der Fisch fraß sie nicht, weil er gefressen wurde
Gefressen wurde er, weil ein anderer krepierte
Der andere krepierte, weil ein Vogel nicht mehr flog
Der Vogel flog nicht mehr, weil ein Käfer verschwand -
Dieser dreckige Käfer der am Anfang stand!

Bleibt die Frage, stellen Sie sie unumwunden
Warum ist denn dieser Käfer verschwunden?

Das meine Damen und Herren ist leider noch nicht richtig geklärt -
Ich glaube aber fast er hat sich falsch ernährt!
Statt Gräser zu fressen, fraß er Gräser mit Öl
Statt Blätter zu fressen, fraß er Blätter mit Ruß
Statt Wasser zu trinken, trank er Wasser mit Schwefel -
So treibt man auf die Dauer an sich selber eben Frevel!

Bliebe noch die Frage, ich stell mich schon drauf ein
Wann wird das sein?

Da kratzen sich die Wissenschaftler meistens in den Haaren
Sie sagen in zehn, in zwanzig Jahren -
In fünfzig vielleicht oder auch erst in hundert!
Ich selber habe mich anders besonnen -
Ich bin sicher der Weltuntergang, meine Damen und Herren, hat schon begonnen!