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Irmgard Keun - Nach Mitternacht

Isbn: 9783123524349 | Bastei Lübbe | 1981

Die Haupthandlung spielt während der nationalsozialistischen Diktatur um das Jahr 1936 an zwei Tagen in Frankfurt am Main, mit den Schwerpunkten des Hitlerauftritts am Opernplatz und Liskas Fest. Für die Erzählerin, die 19-jährige Susanne Moder, genannt Sanna, und ihre politisch engagierten Freunde und Bekannten ist es eine Zeit des Umbruchs und der Entscheidungen für ein an das Regime angepasstes Leben oder die Emigration aus Deutschland.
Die Handlung wird aus der Perspektive und in der Umgangssprache einer 16- bzw. 19-Jährigen vorgeführt. Die Ich-Erzählerin Sanna versteht oft nicht die Redeinhalte der Parteileute und intellektuellen Freunde ihres Bruders und deren ideologischen Hintergrund, aber die Autorin lässt sie das Verhalten der Menschen im Alltag und deren Äußerungen mit dem kindlichen, unverbildeten Blick eines Landmädchens beobachten, deren Äußerungen wiedergeben und kommentieren, teilweise ergänzt durch witzig-ironische Bemerkungen einer lebenserfahrenen Frau. Diese Stilbrüche erzielen beim Leser eine komische Wirkung, vor allem wenn dadurch die Phrasen und grotesken Widersprüche der Hitleranhänger und die eigennützigen Umorientierungsversuche vieler Bürger verfremdet und entlarvt werden.
Als aufmerksame Zuhörerin und Beobachterin charakterisiert und parodiert Sanna die Verhaltensweisen z. B. Liskas, Gertis oder Bettys und gibt, v. a. in den Caféhaus-Szenen, Gespräche über die politische Situation in direkter Rede wieder. So bilden die beiden letzten Kapitel (Kap. 6 und 7) für Heini ein Forum seiner Systemkritik-Monologe und der Journalist erscheint durch seinen Selbstmord als konsequente Gegenfigur zum Dichter Algin. Liska und Betty sind die ihnen entsprechenden Frauen. Der Tragik dieser Beziehungen, ergänzt durch das unglückliche Verhältnis Gertis und Dieter Aarons, wird die Flucht des Paares Sanna und Franz als hoffnungsvoller Aspekt gegenübergestellt.
Die Autorin verdichtet die Handlung immer wieder in symbolischen Kontrastsituationen: Hitler mit der leeren Hand und das instrumentalisierte Bertchen Silias mit dem falschen Strauß oder die misslungene Judenerkennung des Stürmermanns. durch Wünschelrute und Horoskop (Kap. 6) und die folgende skurrile Verbrüderung von Nazi und Jude. Ebenso stehen die ausgelassen singenden und tanzenden Gäste auf der Party der unerfüllten Liebe Liskas zu Heini und dessen Selbstmord gegenüber, der den Untergang ihrer politischen Träume spiegelt. Das alles spielt sich in der Beletage ab, während der wegen eines Angriffs auf einen SA-Mann gesuchte Franz im Keller versteckt auf die Flucht mit Sanna wartet. Die tragischen Entscheidungen vor Mitternacht kontrastieren mit der Hoffnung des neuen Tages nach Mitternacht.
Wikipedia

 

Am Opernplatz

Gerti und ich saßen im Esplande, um uns wurde es immer leerer, immer leerer, ganz leer. Alle Juden gingen fort. Aus dem Lautsprecher rasten Reden wie ein Gewitter. Voll war das Café von diesen Reden über den Führer, der kommen werde, über das freie Deutschland, übe die Begeisterung der Menge. Zwei ältere Damen kamen herein, dünn und sauber sahen sie aus, unverheiratet und beschränkten Mitteln, wie reisende Lehrerinnen aus einer kleinen Stadt. Sie bestellten Kaffee und Apfeltorte  mit Sahne. Als sie anfangen wollten zu essen, wurde im Radio das Horst-Wessel-Lied gespielt, die alten Fräuleins ließen ihre Löffel fallen, standen auf, reckten die Arme. Das muß man, weil man nie weiß, wer einen beobachtet und anzeigt. Vielleicht hatten sie voreinander Angst. Gerti und ich standen auch auf.
Still war das Radio für einen Augenblick. Ein Kellner kam und fragte die Gerti, ob sie von einem Balkon aus alles sehen wolle. Weil wir nun schon mal da waren, wollten wir das natürlich. Wir fuhren mit dem Kellner im Lift auf und ab, alle Balkons waren Nester voller Menschen. Aber der Kellner fand noch einen Balkon, in den er uns reinquetschen konnte. Er selbst hatte kein Interesse daran etwas zu sehen.
Ich saß halb auf dem Schoß von einem dicken Mann, sein Gesicht konnte ich nicht richtig erkennen, sein Atem war war wie ein fetter stinkender Ball, der mir immerzu ins Gesicht flog. Hinter uns saßen elegante Herren und Damen, die benahmen sich still und mit vornehmer Aufmerksamkeit wie in der Loge von einem Theater. Und Gerti sagte auch, es komme ihr vor, als hätten wir Freikarten für einen Theaterplatz, auf den wir eigentlich nicht gehören und für den wir nicht passend angezogen seien.
Rechts auf der Seite vom Opernplatz, wo es so parkartig ist, hatte sich ein schwarzes Meer von Menschen gebildet, die bewegten sich auf und ab in langsamen Wellen. Über ihnen schwamm müdes Licht. Auf dem freigelassenen Platz sprangen und rasten erregt einige SS-Leute herum und schwenkten in wilder Aufregung ihre Arme. Danach geschah immer noch nichts.
Manchmal wurden aus dem Meer von Menschen ohnmächtige Frauen von SS-Männern fortgetragen, dadurch wurde den Leuten in den Logenbalkons das Warten nicht zu langweilig.
Dann glitten auf einmal Autos über die Straße - weich und eilig wie fliegende Daunenfedern. Und so schön! Nie in meinem habe ich so wunderbare Autos gesehen. Und so viele Autos kamen, so viele! Alle Gauleiter und zugehörigen hohen Parteimänner fuhren in solchen Autos, es war herrlich. Die sind sicherlich alle furchtbar reich. Denn wenn ich an den Franz denke und mir ausmale, er würde noch hundert Jahre leben und von morgens bis abends arbeiten - wenn er immer Arbeit hätte - und würde hundert Jahre nicht trinken und kein bißchen rauchen und nichts tun als sparen, sparen, sparen - dann könnte er sich in hundert Jahren immer noch nicht so ein Auto kaufen. In tausend Jahren vielleicht. Aber welcher Mensch wird schon tausend Jahre alt.
Es macht mir Freude, die schönen Autos zu sehen, wie wunderbar blanke rasende Käfer sahen sie von oben aus. Und unten die vielen Leute, die wohl längst schon halb tot vom Warten waren, hatten nun auch Freude, daß ihnen endlich was geboten wurde, allerdings konnten ja nur die Vornstehenden was sehen.
Von weitem schwollen Rufe an: Heil Hitler, näher kam der Mengen Ruf herangewellt, immer näher - nun stieg er zu unserem Balkon empor - breit, heiser und etwas müde. Und langsam fuhr ein Auto vorbei, darin stand der Führer wie der Prinz Karneval im Karnevalszug. Aber er war nicht so lustig und fröhlich wie der Prinz Karneval und warf auch keine Bonbons und Sträußchen, sondern hob nur eine leere Hand.
Ein hellblaues Kügelchen rollte auf die Straße, dem Auto entgegen. Das war Bertchen Silias, die zur heutigen Reihendurchbrecherin ernannt worden war, denn oft wünscht der Führer, mit Kindern fotografiert zu werden. Aber diesmal hatte er wohl keine Lust, Bertchen stand als einsamer kleiner Punkt mit einem riesigen Blumenstrauß.
Vorbei war der Führer. SS-Leute umknieten Bertchen, Blitzlicht flammte, es wurde fotografiert. Nun kommt Bertchen vielleicht doch noch in die Zeitung, wenn auch nur mit SS-Leuten statt mit dem Führer. Dadurch wird die Frau Silias einen kleinen Trost haben.
Auf dem langen Balkon des Opernhauses stellten die jetzigen berühmten Männer sich mit Feierlichkeit auf, mit höflichen Verbeugungen gegeneinander, und sie grüßten auch ins Volk.
Sie taten eigentlich nichts interessantes, aber man durfte sie ansehen.
Gerti meinte, man habe eigentlich nicht viel davon, solche führende Männer anzusehen, die führenden Männer hätten sicher viel mehr davon, wenn sie von uns angesehen würden.
Andererseits waren Damen in unserem Balkon, die freuten sich sehr, daß sie so einen General Blomberg erkennen konnten und Göring, weil er so was Rotes an seine Jacke hatte - man weiß ja von Fotografien her, daß er immer gern aparte Kostüme trägt. Trotzdem er doch eigentlich schon jetzt so bekannt ist, daß er durch besondere Kleidung nicht mehr auffallen braucht.
Zum Algin kommt manchmal ein junger Mann, der ist Schauspieler und findet kein Engagement und muß durch seine Erscheinung wirken und trägt darum leuchtende Schweinslederhandschuhe. Der Göring hat aber doch in seiner Art schon ein Engagement. Andererseits kommen ja auch fertige Filmschauspieler nie zur Ruhe und müssen auch immer wieder von neuem dem Publikum das Äußerste an Mode und Glanz bieten. So ein Göring muß sicher dauern nachdenken, um einem Volk immer Neuigkeiten vorführen zu können. Und dabei müssen diese Männer auch noch immer Zeit zum regieren finden. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie das alles schaffen. Der Führer gibt doch schon fast sein ganzes Leben hin, für sein Volk fotografiert zu werden. Man stelle sich nur so eine ungeheure Leistung vor: ununterbrochen sich mit Kindern und Lieblingshunden, im Freien und in Zimmern - immerzu. Und außerdem ständig mit Flugzeugen zu fahren und in langen Wagneropern sitzen, weil das deutsche Kunst ist, für die er sich auch opfert.
Berühmtheit fordert immer Opfer, das habe ich mal in einem Artikel über Marlene Dietrich gelesen. Es heißt ja immer, der Führer würde nur Radieschen essen und Schwarzbrot mit Klatschkäse. Das ist auch so ein Opfer für den Ruhm. Die Filmschauspielerinnen von Hollywood essen manchmal noch viel weniger, weil sie nicht dick werden dürfen. Und sie trinken und rauchen auch nicht, wegen der Schönheit. Die Liska hungert sich manchmal halb tot, nur um abzunehmen.
Ich könnte mir denken, daß unserem Führer daran liegt, eine besonders schlanke Figur zu haben, da er doch immerzu fotografiert und in Wochenschauen und Reichsparteitagfilmen vorgeführt wird. Er möchte vielleicht auch einen Gegensatz bilden zu Göring und dem Minister Ley und vielen Bürgermeistern und Ministern, die wirklich alle auffallend zugenommen haben. Das kann man ja täglich an ihren Bilder in den Illustrierten erkennen.
Da standen diese Herrschaften nun persönlich auf dem Balkon des Opernhauses. Sie blieben erleuchtet, sonst war Nacht. Die Lichter des Platzes wurden gelöscht, damit die Reichswehr zu richtiger Geltung kommen konnte. Denn die hatte blinkende Stahlhelme auf und brennende Fackeln in den Händen, damit tanzte sie zu militärischen Musikklängen eine Art Ballett. Es handelte sich um einen Zapfenstreich und stellte einen historischen Moment dar und sah sehr hübsch aus.
Die Welt war groß und dunkelblau, die tanzenden Männer waren schwarz und gleichmäßig - ohne Gesichter und stumm, in schwarzer Bewegung. Ich habe in einem Kulturfilm mal Kriegstänze von Negern gesehen, die waren etwas lebhafter, aber der Tanz der Reichswehr hat mir auch sehr gut gefallen.