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Heute vor 100 Jahren

Wolfgang Neuss

* 3. Dezember 1923 † 5. Mai 1989

Wir Kellerkinder

ISBN: 9783434460152 | Syndikat / EVA | 1983 | 165 Seiten

»Wir Kellerkinder« ist die Geschichte von Macke Prinz, der während des Krieges in seinem Keller den Kommunisten Kösel vor den Nazis, und nach dem Kriege seinen Vater vor der Entnazifizierung versteckt. Der »Retter in der Not« wird für seine Heldentat mit Prügel von beiden Seiten belohnt und landet in einer Heilanstalt für »Nichtangepaßte«. Dort trifft er den Toilettenmann Adalbert, der sich manchmal unbedingt für Adolf Hitler halten muß, und Arthur, der sich selbst für einen »verdienten Jazzer des Volkes« hält, aber gerade deswegen beim Kottbusser »Theater Courage« nicht den richtigen Takt findet. Wir Kellerkinder galt zur Zeit der Entstehung 1960 als »Meisterstück politischer Satire«. Die in diesem Band enthaltenen zwei weiteren Filmsatiren »Serenade für Angsthasen« und »Genosse Münchhausen« sind eine Wiederbegegnung mit »Rumpfdeutschlands scharfzüngigsten Kritiker« der sechziger Jahre.

pimpf

Berlin.
Wir Kellerkinder hatten große Zeiten.
Es war 1938.
Ich fang in dem Jahr zu erzählen an, weil ich auch in dem Jahr anfing zu denken.
In unserm Haus hing 1938 fast aus jedem Fenster freiwillig ein Hakenkreuz raus.
Es war die Zeit, wo die Polizei nicht wegen eines Hakenkreuzes zuviel, sondern höchstens wegen eines zu wenig kam.
Im ersten Stock unseres Hauses über dem Keller hing keine Fahne raus.
Da wohnte die jüdische Familie Friedländer.
Im vierten Stock hing auch keine.
Da wohnte ein gewisser Herr Knösel, Schriftsteller, Kommunist und Junggeselle.
Also jedenfalls erzählte man sich so über ihn bei uns im Hause.
Ich war damals 11 Jahre alt, sah genauso aus wie heute, nur kürzer.
Jünger war ich damals, glaube ich, kaum.
Aber Anhänger war ich.
Ich hing dem deutschen Jungvolk an.
Ich war Pimpf...

still

Als Hörspiel

»Wir Kellerkinder« wurde als Film viel beachtet, die Hörspielfassung ist dagegen weitgehend unbekannt geblieben. Dabei hat Wolfgang Neuss auch hier Personen lebensnah skizziert, die deutschen Verhaltensweisen aufgespießt, sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Ein seltenes Dokument aus dieser Zeit, das sowohl schmunzeln lässt als auch nachdenklich macht.

Bearbeitung: Herbert Kundler | Regie: Wolfgang Spier | Musik: Johannes Rediske | Produktion: Norddeutscher Rundfunk/RIAS, 1960


Mitwirkende: Wolfgang Neuss | Wolfgang Gruner | Martin Held | Klaus Becker | Ewald Wenck | Jo Herbst | Emely Schiller | Ivo Veit | Reinhold Bernt | Horst Niendorf | Inge Wolffberg | Rolf Ulrich | Georg Braun | Dieter Koch | Achim Strietzel | Joachim Röcker | Edith Robbers | Erna Senius | Helmut Ahner | Friedrich Luft | Horst Braun | Horst Czarski | Dietrich Frauboes | Joe Furtner | Oskar Lindner | Paul Löffler | Hans Nerking
archive.org

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Eugen Bracht Das Gestade der Vergessenheit
Eugen Bracht - Das Gestade der Vergessenheit
Öl auf Leinwand, 139 x 257 cm, 1889, Hessisches Landesmuseum Darmstadt

Franz Josef Degenhardt - In den guten alten Zeiten


Burg Waldeck, 1966

Dort im Südrandkrater, hinten an der Zwischenkieferwand,
wo im letzten Jahre noch das Pärchen Brennesseln stand,
wo es immer, wenn der Mond sich überschlägt, so gellend lacht,
drüben haust in einem Panzer aus der allerletzten Schlacht
jener Kerl mit lauter Haaren auf dem Kopf und im Gesicht,
zu dem, wenn es Neumond ist, unser ganzer Stamm hinkriecht.
Jener schlägt ein Instrument aus hohlem Holz und Stacheldraht
und erzählt dazu, was früher sich hier zugetragen hat
in den guten alten Zeiten.

Damals konnte der, der wollte, auf den Hinterkrallen stehn.
Doch man fand das Kriechen viel bequemer als das Aufrechtgehn.
Der Behaarte sagt, sie seien sogar geflogen, und zwar gut.
Aber keiner fand je abgebrochne Flügel unterm Schutt.
Über Tage und in Herden lebten sie zur Sonnenzeit,
doch zum Paaren schlichen sie in Höhlen, immer nur zu zweit.
Ihre Männchen hatten Hoden und ein bißchen mehr Gewicht,
doch ansonsten unterschieden sie sich von den Weibchen nicht
in den guten alten Zeiten.

Damals wuchsen fette Pflanzen überall am Wegesrand,
doch sie abzufressen galt als äußerst unfein in dem Land.
Man verzehrte Artgenossen, selbst das liebenswerte Schwein,
doch die aufrecht gehen konnten, fraß man nicht, man grub sie ein.
Manchmal durfte man nicht töten, manchmal wieder mußte man.
Ganz Genaues weiß man nicht mehr, aber irgendwas ist dran.
Denn wer Tausende verbrannte, der bekam den Ehrensold,
doch erschlug er einen einz’lnen, hat der Henker ihn geholt
in den guten alten Zeiten.

Wenn ein Kind ganz nackt und lachend unter einer Dusche stand,
dann bekam es zur Bestrafung alle Haare abgebrannt.
Doch war’s artig, hat’s zum Beispiel einen Panzer gut gelenkt,
dann bekam es zur Belohnung um den Hals ein Kreuz gehängt.
Man zerschlug ein Kind, wenn es die Füße vom Klavier zerbiß,
doch man lachte, wenn’s dem Nachbarkind ein Ohr vom Kopfe riß.
Blut’ge Löcher in den Köpfen zeigte man den Knaben gern,
doch von jenem Loch der Löcher hielt man sie mit Hieben fern
in den guten alten Zeiten.

Alle glaubten an den unsichtbaren gleichen Manitu,
doch der Streit darüber, wie er aussah, ließ sie nicht in Ruh.
Jene malten ihn ganz weiß und andre schwarz oder gar rot,
und von Zeit zu Zeit, da schlugen sie sich deshalb einfach tot.
Ob die Hand ganz rot von Blut war und die Weste schwarz von Dreck,
das war gleich, wenn nur die Haut ganz weiß war, ohne jeden Fleck.
Und den Mischer zweier Farben federte und teerte man
oder drohte ihm für nach dem Tode Feuerqualen an
in den guten alten Zeiten.

Und wer alt war, galt als weise, und wer dick war, galt als stark.
Und den fetten Greisen glaubte man aufs Wort und ohne Arg.
Und wenn Wolken sich am Abend färbten, freute man sich noch,
und man fraß ganz ruhig weiter, wenn die Erde brandig roch.
Denn vom Himmel fiel noch Wasser, und die Sonne war noch weit,
und der große Bär, der schlief noch, in der guten alten Zeit.
Und die Erde drehte sich nicht plötzlich rückwärts und im Kreis.
Doch man schaffte rüstig, bis es dann gelang, wie jeder weiß.
Und da war Schluß mit jenen Zeiten,
mit den guten alten Zeiten.

Und so hocken wir bei Neumond an der Zwischenkieferwand,
wo im letzten Jahre noch das Pärchen Brennesseln stand.
Und wir lauschen dem Behaarten, der sein Instrument laut schlägt.
Und wir lauschen, lauschen, lauschen nächtelang und unbewegt.
Und wir träumen von den guten alten Zeiten und dem Land,
wo man überall und jederzeit genug zu fressen fand.
Unsre Stammesmutter streichelt unser Jüngstes mit den Zehn,
manchmal seufzt sie: «O ihr Brutgenossen, war das früher schön
in den guten alten Zeiten.»


Kai Degenhardt, UZ-Pressefest, 2011

Eugen Bracht - Das Gestade der Vergessenheit (Detail) Gestade der Vergessenheit, Detail